Tim Raue – Berlin

Die Geschmackssinne kulinarisch im siebten Himmel schweben zu lassen ist tatsächlich möglich. Es ist wie eine essbare Kurzversion eines Wellnesswochenendes und mindestens genau so effektiv, wenn sowohl Atmosphäre als auch Service stimmen und man sich bewusst auf achtsames Genießen einlässt.

Wer das Restaurant nicht kennt, würde es vielleicht im Vorbeigehen gar nicht wahrnehmen. Nur ein dezenter roter verschnörkelter Schriftzug auf den riesigen Fenstern und ein kleineres weißes Schild neben einer Einfahrt geben einen Hinweis auf seine Existenz. Über diese Einfahrt erreicht man den Eingang. Man gelangt in den Innenhof eines Gebäudekomplexes dessen Fassade mit weißen Klinkern versehen ist. Der Eingangsbereich im Hof ist absolut konträr zu dem, was im Inneren auf den Gast wartet; außen etwas herb, innen eine kleine Oase. Ein wenig Vergangenheit aus diesem Gebiet kann in Form eines Stücks aus der Berliner Mauer betrachtet werden.

Eingang_8952

Es ist Mittagszeit und die ersten Gäste warten schon gut gelaunt und schwatzend vor dem Eingang. Die letzte Zigarette wird noch schnell von dem einen oder anderen Gast aufgeraucht. Dann öffnet sich die Tür zur kulinarischen Reise. In Corona-Zeiten müssen auch hier die Regeln eingehalten werden: Eintreten nur tischweise, Hände an einem mobilen Waschbecken (erinnert irgendwie an das in einem Flugzeug) gründlich waschen und anschließend desinfizieren. Danach werden wir an unseren Tisch gebracht. Jeder Angestellte trägt eine Mund- und Nasenbedeckung. Als Gast muss man diese ebenfalls tragen, sobald man sich (noch) nicht an seinem Platz befindet. Am Tisch liegt eine Liste aus, auf der man seine Kontaktdaten hinterlassen muss.

Wenn das alles erledigt ist, kann es endlich losgehen. Für ein paar Stunden fällt der Stress der Woche ab. Wir sind nur noch im Hier und Jetzt. Unsere Sinne sind fokussiert auf das was gleich kommt…

Zur Einstimmung starten wir mit einem Glas Rieslingsekt und genießen dazu die beinahe kohlenhydratfreie Amuse-bouche: leicht angebratener Schweinebauch, sauer-scharf marinierte Kürbisfrucht, kräftig-salzige Dashibrühe mit Yuzu, Süßkartoffel mit vermutlich Piment d´Espellette, leicht scharfe Curry-Rettichröllchen, Pakchoi mit einer Limettensoße und Sauerrahmmousse, Honigtomaten mit einer leckeren Creme und eine Art Marshmallows leicht süß aber dennoch herzhaft mit peruanischer Minze. Die unwiderstehlichen gerösteten und gewürzten Cashewnüsse essen wir zum Abschluss.

Gruß_8956

Während der kleinen Gaumenfreude schweift mein Blick durch diesen Raum. Das 1914 erbaute Geschäftshaus beherbergte einst unter anderem die Buchbinderei Wübben & Co. und die Pianoforte-Fabrik Schwechten. Den funktionalen Industrieraum hat man trotz seiner Größe, riesigen Fenstern und Deckenhöhe sehr geschickt mit viel warmen Nussholz und den unterschiedlichen ausnahmslos ruhigen Blautönen der Sitzmöbel in ein gemütliches Speisezimmer verwandelt. Dezente Beleuchtungselemente, die als leichter Raumteiler dienen und mit den Tischen mitten im Raum fast schon ein Separee bilden, runden das Bild ab. Im Hintergrund hört man leise angenehme Loungemusik die zwar etwas älter, aber immer noch sehr schön ist. Die Atmosphäre ist unglaublich ungezwungen und entspannt.

Innen_8953

Kurze Zeit später beginnt auch schon die Verzauberung des Gaumens:

Spitzkohl, grüne Sancho Beeren & Portulak 

Zarte gerollte Spitzkohlblättchen umschließen eine leckere Füllung, dekoriert mit Anissamen und Sancho Beeren, welche auch Japanischer Pfeffer genannt werden. Dazu ein Püree aus Spitzkohl mit intensiven Geschmack und leichter Schärfe mit einer grünen Soße die dezent nach Limette oder Yuzu schmeckt und knackigen Portulak-Blättchen.

Ikarimi Lachs, Tomate & Sternanis

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Butterweicher, zart schmelzender Lachs mit Fleur de Sel bestreut in einer vermutlich klaren Tomatenconsommé, welche leicht süßlich ist und eine angenehm ölige Konsistenz hat. Die „Tomaten“ auf dem Teller wurden ihrem Original nachempfunden. Doch ihr Geschmack ist eine Potenzierung  und wurde abgerundet mit einer Sternanis-Creme obendrauf, welche eine leichte Schärfe besitzt.

Wasabi Kaisergranat 

Zu Recht ist dies ein Signature Dish und ehrlich gesagt ein absolutes Muss. Der warme Granat liegt umhüllt in einem Tempuramantel, mit einer cremigen Wasabi-Mayonnaise und Reisflakes garniert, auf einem Spiegel aus fruchtigen Mango-Passionsfruchtpüree mit Möhren und Ingwer. Das Ganze hat wieder einen Hauch von Schärfe. Der dazu empfohlene Wein ist ein 2003er von Prüm; süßlich wie ein Dessertwein aber der perfekte Begleiter für dieses Gericht – geniales Flavour Pairing.

Sichuan Topinambur, chinesische Artischocke, rote Traube

Eine große zarte Knolle Topinambur, die mit einer dunklen sehr kräftigen, leicht süß-salzigen und dicken Soße überzogen ist. Der Geschmack erinnert mich an Feige. Das Püree ist vermutlich die chinesische Artischocke. Dazu wurde ein sehr schöner kräftiger Rotwein – 2016 Komplex19 vom Weingut Klostermühle Odernheim – gereicht.

Kiwi, Kokosnuss & Shiso

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Ein leichtes und erfrischendes Dessert aus Kokos- und Kiwisorbet mit Kokos-Baiser, Kiwischeibchen und Shiso-Blatt in einer grünen leichten Emulsion. Diese ist dezent süß und salzig und hat einen winzigen Hauch Schärfe. Das Shiso-Blatt schmeckt wie eine Mischung aus Basilikum und Minze mit etwas Zitrone.

Es folgt noch ein kleines leichtes Pre-Dessert und einen starken Espresso der mit Kokosblütenzucker oder wunderbar dunklen Vollrohrzucker gesüßt werden kann. Es gibt leicht scharf marinierte Ananasscheibchen, ein leicht scharfes Ananasgelee und eine weiche weiße, zart schmelzende Schokolade grün ummantelt.

PreDessert_8981

Die Gäste sind allmählich aufgetaut und schwatzen etwas mehr als noch am Anfang. Neben uns feiern drei Frauen den runden Geburtstag ihrer Freundin und haben viel Spaß zusammen. Wir kommen kurz ins Gespräch über das Essen und den Wein. An einem Tisch in der Mitte sitzen zwei ältere Pärchen, die sich später ganz lieb von uns verabschieden. Der Älteste von ihnen fragt zwischendurch beim Essen nach einem Pfefferstreuer. Das ist irgendwie niedlich. Ohne große Diskussion oder eines nonverbalen Statements wird ihn dieser an den Tisch gebracht. Vermutlich ist das ein eher selten geäußerter Wunsch eines Gastes hier, der hoffentlich nicht zur Verunsicherung in der Küche beigetragen hat.

Es war ein schönes Erlebnis. Das Essen und die Einrichtung haben einen modernen und frischen, angenehm asiatischen Touch. Einziger klitzekleiner Kritikpunkt: das Dessert folgte zu schnell auf den Hauptgang. Wir hätten sehr gern noch ein kleines Päuschen eingelegt. Ansonsten ist der Service sehr aufmerksam. Der Sommelier empfiehlt ausgezeichnete und ungewöhnliche Weine, die alle gut zu jedem einzelnen Gericht korrespondieren. Wein ist seine absolute Passion. Er stellt in Kooperation mit Horst Sauer sogar eigenen Wein her.

Champus_8983

Wer jetzt noch etwas tiefer in die Philosophie und Projekte von Tim Raue und dem Geheimnis der verwendeten frischen Kräutern eintauchen möchte, findet hier einen interessanten, wenn auch schon etwas älteren Artikel: http://www.esspress.eu/leute_1806_raue.html

Aussen_8992

Adresse:

Tim Raue

Rudi-Dutschke-Str. 26

10969 Berlin

Fon: 030/25937930

http://www.tim-raue.com


3 Gedanken zu “Tim Raue – Berlin

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